Vielfalt in der Klasse unterstützen

Überblick
Inhalt
Einführung: Binnendifferenzierung in der Primarstufe
Ziel des Unterrichtes ist es, dass Schüler*innen etwas lernen. Dies erscheint selbstverständlich zu sein. Aber was ist Lernen und wie lässt sich sicherstellen, dass auch alle Schülerinnen und Schüler einer Lerngruppe Lernfortschritte machen?
Lernen ist ein aktiver, konstruktiver Akt und führt zum Erwerb von Kompetenz und Wissen. Während des Lernens werden Informationen aufgenommen und aktiv in das bereits vorhandene Wissensnetz eingebaut und damit im Gedächtnis gespeichert. Wesentliche Bedingungen für ein erfolgreiches Lernen sind
- das bereits vorhandene Wissen und bereits erworbene Fertigkeiten zum jeweiligen Thema,
- die Lernenden selbst mit ihren persönlichen Zielen, Wünschen, Vorlieben, Interessen und ihrer Motivationslage,
- eine vorbereitete Lernumgebung, die zu den jeweiligen Lernenden passt.
Schulisches Lernen findet in Gruppen statt, die in ihrer Zusammensetzung heterogen sind. So unterscheiden sich die Schüler*innen unter anderem in Bezug auf ihre kognitiven Möglichkeiten, die sprachlichen Kompetenzen, die Motivation, die bevorzugte Herangehensweise an den Lerngegenstand, den kulturellen Hintergrund, das Vorliegen einer Beeinträchtigung, das Vorliegen einer Hochbegabung usw.
Für erfolgreiche Lernprozesse müssen diese individuellen Lernvoraussetzungen bei der Unterrichtsplanung mitbedacht werden. Dabei reicht es nicht, die individuelle Förderung nur auf die Extreme wie besonders lernschwache oder hochbegabte Schüler*innen zu beschränken. Vielmehr sollte jedes Kind nach seinen individuellen Potenzialen bei der Planung Berücksichtigung finden. Um dies zu gewährleisten, ist eine Differenzierung des Unterrichts notwendig.
Äußere und innere Differenzierung
Hier lassen sich die äußere von der inneren Differenzierung unterscheiden. Bei der äußeren Differenzierung wird die Lerngruppe geteilt und räumlich getrennt unterrichtet. Kinder mit ähnlichen Voraussetzungen und/oder Neigungen lernen gemeinsam. Im Gegensatz dazu bleibt die Lerngruppe bei der inneren Differenzierung zusammen und die Differenzierung findet z.B. über unterschiedliches Lernmaterial, Herangehensweisen oder Sozialformen statt.
Um sinnvoll differenzieren zu können, ist eine Feststellung der individuellen Lernvoraussetzungen wichtig (informelle oder formelle Diagnostik mit Tests, Kompetenzrastern, Gesprächen etc.). Auf dieser Grundlage macht die Lehrkraft Lernangebote passend zum Leistungsstand, den Interessen und Fähigkeiten und überprüft im Anschluss die Lernfortschritte der Schüler*innen. Die drei Phasen Diagnose – Lernangebot/Förderung – Überprüfung bilden fortlaufend die Basis des Unterrichts.
Differenzierungsmöglichkeiten für eine Binnendifferenzierung
In der Regel sind die fachlichen und kognitiven Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler unterschiedlich. Manche Schüler*innen brauchen den handelnden Umgang mit dem Lernstoff, um etwas im Wortsinne zu begreifen, andere können einfache Schlüsse ziehen, z.B. aus den Experimenten der Videos, und wieder andere durchschauen auch komplexe Zusammenhänge und können Verknüpfungen mit Inhalten außerhalb des eng umgrenzten Themas herstellen.
Auf allen Lernniveaus sind Lernfortschritte möglich. Lernschwächere Schüler*innen benötigen vor allem zu Beginn mehr Unterstützung und Feedback (zu Lernstrategien und Lernerfolgen). Mit zunehmender Kompetenz kann diese Unterstützung langsam zurückgefahren werden. Hilfreich können hier z.B. Tippkarten sein, die eine Methode genauer erklären oder Hinweise zum Lösungsweg geben. Neben gestuften Hilfen bei der Bearbeitung identischer Aufgabenstellungen kann die Lehrkraft Aufgaben mit unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad und Abstraktionsniveau stellen, die Aufgabenmenge variieren, zu Pflichtaufgaben Wahlaufgaben zur Verfügung stellen, die unterschiedliche Lernwege oder thematische Schwerpunkte eröffnen. Wichtig für das Gelingen von Lernprozessen ist, dass die Inhalte der Aufgaben und der Abstraktionsgrad zu den individuellen Lernvoraussetzungen passen.
Schüler*innen kommen mit ganz unterschiedlichen sprachlichen Voraussetzungen in die Schule, sei es, weil sie oder ihre Eltern einen Migrationshintergrund haben oder weil sie aus einem bildungsfernen Elternhaus stammen und in ihrer frühen Kindheit wenig Förderung erhalten haben. Zu viel Text überfordert diese Kinder schnell. Hier sind handlungsorientierte Zugänge wie in den Experimentiervideos besser geeignet. Sprache findet dann eher mündlich statt und hat viele deiktische Elemente („Gib mir das da.“). Von da aus kann sich die (mündliche) Alltagssprache weiterentwickeln, auch im Gespräch und beim Handeln mit der Lernpartnerin oder dem Lernpartner.
Andere Schüler*innen kommen mit der Bildungssprache mit ihren abstrakteren Begriffen, Passivformen und dem komplexeren Satzbau gut zurecht oder können mit wenig Hilfen herangeführt werden. Bildungssprache ist eher schriftsprachlich orientiert. Differenzieren können Lehrkräfte hier, indem sie z.B. Textbausteine für Formulierungen zur Verfügung stellen, fachspezifische Wortfelder als Plakat in der Klasse aufhängen, häufige Verben und ihre Konjugationen auf Karteikarten bereitstellen usw.
Die Schulfachsprache ist gekennzeichnet durch die Verwendung von Fachbegriffen, fachsprachlichen Wendungen, Passivformen und einem abstrakteren Niveau. Hilfreich kann hier z.B. ein Glossar sein, in dem wichtige Begriffe erklärt werden oder auch Übersetzungen für fachsprachliche Wendungen in die Bildungssprache und/oder Alltagssprache.
Manche Schüler*innen arbeiten gerne alleine an einem Thema, die meisten aber bevorzugen ein kooperatives Arbeiten mit Partner*innen oder in einer Gruppe. Eine Differenzierung kann dadurch stattfinden, dass die Kinder die bevorzugte Sozialform selbst wählen können. Kooperatives Arbeiten fördert die Sozial- und Kommunikationskompetenz und kann unterschiedlich organisiert werden. So können z.B. Schüler*innen auf gleichem kognitiven und/oder sprachlichen Niveau gemeinsam arbeiten. Es können auch Lerntempoduette eingerichtet werden. Dabei arbeiten Kinder, die ungefähr zur gleichen Zeit mit einem Einzelauftrag fertig werden, gemeinsam weiter. Dabei stehen die Paarungen nicht von vornherein fest, sondern Schüler*innen, die bereits fertig sind, machen dies z.B. durch das Aufstellen eines Schildchens deutlich und die nächsten suchen sich aus diesem Angebot eine*n Lernpartner*in.
Es können auch feste Lernpartnerschaften gebildet werden, bei denen das Leistungsniveau unterschiedlich ist. Dabei muss gewährleistet sein, dass die Unterstützung durch die stärkeren Schüler*innen nicht im Vorsagen besteht, sondern in einer Hilfe zum eigenständigen Lernen. Bei dieser, auch Peer-Tutoring genannten, Lernform profitieren nicht nur die leistungsschwächeren Schüler*innen, sondern auch die leistungsstärkeren, indem diese ihr eigenes Wissen und Können vertiefen und ihre Sozialkompetenz stärken.
Als letzte Sozialform ist die Gruppenarbeit zu nennen, die sowohl arbeitsteilig als auch arbeitsgleich ablaufen kann. Bei der Gruppenarbeit ist darauf zu achten, dass jedes Mitglied eine Aufgabe übernimmt und Lernfortschritte erzielen kann.
David Kolb entwickelte eine Theorie der Lernstile 1, also der bevorzugten Art, wie Menschen lernen. Er unterschied dabei vier Lernstile:
- Diverging (feel and watch),
- Assimilating (think and watch),
- Converging (think and do),
- Accomodating (feel and do).
Diese Stile treten selten in ihrer Reinform auf, aber meist gibt es eine oder mehrere Präferenzen. Ideal ist es, wenn der Unterricht so organisiert ist, dass allen bevorzugten Lernstilen Rechnung getragen wird.
Das Konzept der Lerntypen 2 geht davon aus, dass es bevorzugte Lernmethoden gibt und unterscheidet:
- visuelles Lernen (durch Schauen),
- auditives Lernen (durch Hören),
- Lesen und Schreiben (Lernen durch die Verarbeitung von Texten),
- kinästhetisches Lernen (Lernen durch praktisches Handeln und Bewegung).
Ob diese Lerntypen als manifeste Persönlichkeitseigenschaften vorliegen, ist in der Forschung umstritten. Unumstritten ist aber, dass bei einer Aktivierung mehrerer Kanäle auch mehr Neuronen aktiv sind und damit die Wahrscheinlichkeit steigt, dass etwas im Gedächtnis bleibt. Der Effekt wird verstärkt, wenn positive Emotionen mit der Informationsaufnahme und -verarbeitung verbunden sind. Der Zugang zu naturwissenschaftlichen Themen über das Experimentieren und Untersuchen bietet hier eine gute Ausgangslage.
Lernerfolg
Für erfolgreiche Lernprozesse ist die Motivation eine wichtige Voraussetzung. Die Bedürfnisse nach Eigenständigkeit, Kompetenz- und Erfolgserleben sowie soziale Einbildung sollten bei der Unterrichtsplanung Berücksichtigung finden. Eigenständigkeit kann z.B. gefördert werden, wenn die Schüler*innen ihren Lernprozess schrittweise selbst planen, überwachen und kontrollieren, wenn sie ihre Aufgaben, Sozialformen und methodischen Zugänge frei wählen können, indem sie sich z.B. aus einem Aufgabenpool bedienen. Kompetenz und Erfolg können Schüler*innen erleben durch den Lerngegenstand selbst (wenn ein Experiment beispielsweise funktioniert hat) oder wenn sie regelmäßig ein (positiv formuliertes) Feedback zu inhaltlichen, metakognitiven, strategiebezogenen oder Fragen der Haltung bekommen. Voraussetzung dafür ist, dass sowohl die eigenen als auch die Ziele des Unterrichts bekannt sind. Dabei können auch Gestaltungs- und Verbesserungs- oder Alternativmöglichkeiten aufgezeigt werden.
Aus motivationaler Sicht eignen sich besonders Themen aus der Lebenswelt der Kinder, so wie es bei den Experimentier- und Erklärvideos der Fall ist. Dieses Interesse am Inhalt kann mit zur Entwicklung kreativer und effizienter Lernstrategien beitragen, was wiederum den Lernerfolg steigert.
Herausforderungen
Binnendifferenzierung stellt durchaus eine große Herausforderung für Lehrkräfte dar, vor allem, wenn diese in einer Lerngruppe von 30 Kindern jedem Kind gerecht werden sollen oder wollen. Sie ist aber für den Lernerfolg jedes Einzelnen unabdingbar und lohnt sich. Anfangen lässt sich mit einzelnen differenzierten Phasen, die in den lehrkräftezentrierten Unterricht eingebaut werden. Der Aufwand für solche Phasen ist überschaubar und es entsteht mit der Zeit ein Fundus, aus dem die Lehrkraft ohne weiteren Aufwand zukünftig schöpfen kann. Es bietet sich an, mit mehreren Lehrkräften in Teams zusammenzuarbeiten und den Unterricht gemeinsam vorzubereiten. Je mehr die Schüler*innen eigenständig und eigenverantwortlich arbeiten, desto mehr wandelt sich die Rolle der Lehrkraft von der des Instruierens hin zu der des Begleitens von Lernprozessen.
Die Autorin
Lernstile nach David Kolb: Eine Übersicht
(letzter Zugriff 30.09.2024)Frederic Vester, Denken, Lernen, Vergessen. Was geht in unserem Kopf vor, wie lernt das Gehirn, und wann lässt es uns im Stich? (1998).
Petra Breuer-Küppers, Rüdiger Bach, Schüler mit Lernbeeinträchtigungen im inklusiven Unterricht. Praxistipps für Lehrkräfte (2016).
Petra Breuer-Küppers, Anna-Maria Hintz, Schüler mit herausforderndem Verhalten im inklusiven Unterricht. Praxistipps für Lehrkräfte (2018).
Catharina Banneck, Wie lässt sich das Lernen im Klassenverband individuell gestalten? Binnendifferenzierung im Unterricht aus Sicht einer Lehrerin. Bundeszentrale für Politische Bildung (2020).
(letzter Zugriff 30.09.2024)Christian Fischer et al., Individuelle Förderung als schulische Herausforderung (2014).
(letzter Zugriff 30.09.2024)
Diese Seite teilen